PARTEIWATCH: Die Grünen in Niedersachsen

Ende März haben die Grünen Niedersachsen ihre Liste für die Landtagswahl aufgestellt. Wie divers ist die Liste? Wie konkret läuft der Prozess ab? Und wer profitiert davon? Alle Antworten jetzt in unserem Review.

Per Statut definieren die Grünen Vielfalt als ein parteiliches Kernziel – man sei “auf vielfältiges biographisches Erfahrungswissen und vielfältige Perspektiven” angewiesen, um “umfassende Antworten” auf gesamtgesellschaftliche Fragen zu finden, heißt es dort. Es gelte für alle Untergliederungen und Teilorganisationen sowie Gremien und Versammlungen, dies “zu achten und zu stärken”. Doch wie sieht es bei einer Kandidatur in der Praxis aus? Lassen über Jahrzehnte gewachsene Parteistrukturen Vielfalt überhaupt zu? Wie wichtig sind für erfolgreiche Kandidat*innen zum Beispiel die Länge ihrer Parteimitgliedschaft, persönliche Vernetzung oder Bekanntheitsgrad? Eine Bilanz aus Niedersachsen.

Platz 1 bis 12: Die “sicheren Zwölf”

Am 9. Oktober 2022 ist Landtagswahl in Niedersachsen. Die für die Grünen antretenden  Kandidat*innen haben rund 210 Delegierte im März bei einem – coronabedingt digitalen – Landesparteitag gewählt. Auf der Landesliste stehen nun 80 Namen, von denen man die ersten zwölf getrost als sichere Mandate bezeichnen kann, denn dass die Grünen ihr Wahlergebnis von 2017 (8,7 Prozent) dieses Jahr halten beziehungsweise übertreffen, gilt als sicher. Dementsprechend waren besonders diese ersten zwölf Plätze auf der Liste heiß begehrt – und gut “bewacht”: Zwar steht die Kandidatur für einen sicheren Listenplatz in der Theorie allen offen. Im Hintergrund finden aber schon lange vor einem Parteitag Absprachen und Vereinbarungen für die Besetzung ebendieser statt. Dabei spielen Direktmandat, Regionalproporz und persönliche Beziehungen eine Rolle. Wie das genaue Verfahren funktioniert, erklären wir weiter unten. Der Prozess ist aber – wie bei allen Parteien – tendenziell eher intransparent. 

Klar ist bei der aktuellen Landesliste der Grünen in Niedersachsen, dass auf den ersten elf Plätzen alle Anwärter*innen ohne Konkurrenz kandidierten. Durch Absprachen und Vereinbarungen im Hintergrund konnten sich so einige Gruppierungen einen der sicheren Plätze sichern. Zwar mussten alle Kandidat*innen eine Bewerbung schreiben, eine Rede halten und Fragen beantworten – ob dies bei ihrer letztendlichen Wahl allerdings irgendeinen Einfluss hatte, ist fraglich. 

Schadet das der Vielfalt? Die Antwort auf diese Frage ist bei den Grünen etwas kompliziert. Einerseits bevorzugt das System mit Sicherheit Personen, die gut vernetzt sind und/oder von einflussreichen Gruppierungen unterstützt werden. Andererseits hat die Partei verschiedene Parameter etabliert, die für die Listenbildung eine Rolle spielen und Vielfalt garantieren/ermöglichen sollen. So verfahren die Grünen bei der Besetzung paritätisch: Ungerade Plätze sind Frauen vorbehalten¹, die Bewerbung auf die restlichen Plätze steht allen Kandidat*innen offen. In Niedersachsen gilt darüber hinaus die Regel, dass jeder dritte Platz an jemanden vergeben werden muss, der/die noch nie ein Mandat im Landtag innehatte. 

Es lässt sich jedoch feststellen, dass die “sicheren Zwölf” in Niedersachsen die von der Partei gesetzten Standards reflektieren. Dabei besetzen Frauen sogar ein wenig mehr als die Hälfte (sieben) jener zwölf Plätze. Vier Kandidat*innen werden außerdem entsprechend der niedersächsischen Vorgaben neu in den Landtag einziehen. Auch befinden sich unter den gelisteten Kandidat*innen mindestens eine PoC sowie Menschen aus der LGBTQI+-Community. Ein Blick auf die Altersstruktur zeigt ebenfalls eine gewisse Diversität: Acht Kandidat*innen sind jünger als 50. Die jüngste Kandidatin mit einer klaren Aussicht auf einen Platz im niedersächsischen Landtag ist 27 Jahre alt. Ob diese Vielfalt von allen Deligierten unterstützt kann anhand der Enthaltungen gemessen werden: Auffällig hierbei ist, dass die meisten Enthaltungen auf die jüngste Kandidatin (25%) und die einzige PoC (20%) entfielen. 

Plätze 12 bis 24: Die “wahrscheinlichen Zwölf”

Auch auf nachfolgenden Plätzen stehende Kandidat*innen können durchaus auf einen Einzug ins Parlament hoffen. Laut Forsa-Umfrage  lagen die Grünen in Niedersachsen vor dem Parteitag bei 17 Prozent – das entspricht 24 Sitzen im Landtag, die voraussichtlich von den ersten 24 Kandidat*innen auf der Landesliste besetzt würden, da die wenigen Direktmandate, bei denen die Grünen Chancen haben, allesamt an Kandidierende weit oben auf der Liste fallen würden. Damit haben auch Listenplatz 12 bis 24 eine gute Wahrscheinlichkeit, in den Landtag einzuziehen. 

Auch für die “wahrscheinlichen Zwölf” finden im Vorfeld Vereinbarungen statt, vor allem bis Platz 20 waren die Gegenkandidaturen noch überschaubar. Danach wird es sehr unübersichtlich, wer antritt und mit welchen Absprachen. Ein nicht zu unterschätzender Faktor bei Gegenkandidaturen ist die Rede: Jede Person hat nur einmal das Recht zu reden. Kandidiert eine Person auf Platz 16, darf sie vor der Wahl dieses Listenplatzes sprechen. Verliert die Person kann sie weiter hinten – beispielsweise auf Platz 18 – wieder kandidieren, darf aber nicht erneut sprechen. Je mehr neue Kandidaturen bei einem Platz dazukommen, desto eher geraten Kandidierende ohne Rede in den Hintergrund. Man muss also gut taktieren – tritt man zu weit oben an verschenkt man den Aufmerksamkeits-Bonus der Rede – tritt man zu spät an vergibt man die Chance auf einen besseren Listenplatz. 

Ein Blick auf das Endergebnis zeigt, dass diese Konkurrenz im Fall von Niedersachsen nicht unbedingt einen negativen Einfluss auf die Diversität hatte. Unter den “wahrscheinlichen Zwölf”, von denen elf Kandidat*innen unter 50 Jahre alt sind, befinden sich ebenfalls sieben Frauen. Der jüngste Kandidat ist 23. Es sind außerdem zwei PoC und mehrere Menschen mit LGBTQI+-Hintergrund vertreten. Alle Kandidat*innen bis auf eine würden neu in den Landtag einziehen – was an dieser Stelle nicht unbedingt verwundert, da bereits etablierte Abgeordnete für ihre Wiederwahl sichere Listenplätze belegt haben dürften. 

Plätze 24 bis 28: Die “möglichen Vier”

Sollten die Grünen in die Landesregierung kommen, würden sie drei bis vier Minister*innen stellen. Weil die Partei in Niedersachsen Mandat und Regierungsamt klar voneinander trennt, würden hier noch einmal entsprechend viele Sitze frei und die Kandidat*innen auf den Plätzen 24 bis 28 der Landesliste würden ins Parlament nachrücken. Noch mehr als bei den “wahrscheinlichen Zwölf” wuchs für die Abstimmung über diese “möglichen Vier” das Feld der Konkurrenz. So kämpften gleich sechs Kandidat*innen um Listenplatz 25. Die finale Liste folgt dem gleichen Muster wie zuvor: Die Plätze sind paritätisch verteilt (zwei Frauen, zwei Männer), repräsentiert ist mindestens eine PoC. Alle vier Kandidat*innen sind jünger als 50, der jüngste von ihnen ist 30 Jahre alt.

Fazit

Auch wenn die Grünen im Prozess der Listenbesetzung transparenter sein könnten, gibt die Partei in Niedersachsen in Sachen Diversität ein überraschend gutes Bild ab. Das steht vor allem im Kontrast zur vergangenen Bundestagswahl, bei der es lediglich eine einzige PoC auf die niedersächsische Liste schaffte. 

Die neue Auswahl von Kandidat*innen nach dem Parteitag zeigt, dass sich auf Landes-Ebene nach der Bundestagswahl offensichtlich etwas geregt hat. Ein Beispiel für die erfolgreiche Beteiligung marginalisierter Gruppen ist BuntGrün Niedersachsen, ein Netzwerk über das sich PoCs in der Partei organisieren und gemeinsam für ihre Interessen einsetzen – auch wenn es um die Listenaufstellung geht.

Unterm Strich zeigt sich, dass innerparteiliche Grassroots-Organisationen und der damit einhergehende Zusammenschluss marginalisierter Gruppierungen einen Weg auf die Landesliste darstellen kann – und somit eine effektive Beteiligung am demokratischen Prozess. 

 

EXKURS: Was es alles braucht, um überhaupt antreten zu können 

Die Listenaufstellung ist einigermaßen kompliziert und soll verschiedene Interessen innerhalb der Partei befriedigen: zum einen sollen die lokalen Parteiverbände gut eingebunden sein, zum anderen soll die Liste so sein, dass die Abgeordneten am Ende möglichst das ganze Bundesland abdecken und keine Region ohne Abgeordnete*n dasteht. Dazu gibt es inhaltliche Strömungen – der eher linke Flügel und die eher pragmatischen “Realos” sowie persönliche Verbindungen, die bei der Aufstellung eine Rolle spielen. 

Um für die Liste kandidieren zu dürfen, sollte eine Person bereits in einem Wahlkreis als Direktkandidat*in aufgestellt worden sein. Dadurch soll abgesichert werden, dass sich alle auf der Landesliste auch vor Ort in ihrem Wahlkreis einsetzen. 

Ein weiterer wesentlicher Baustein für einen guten Platz sind informelle regionale Voten. Damit auf der Landesliste jede Region gut vertreten ist, und mehrere Kandidierende aus einer Region nicht gegeneinander antregen, stimmen die Regionen vorher auf Bezirkskonferenzen ab, wen sie für welchen Bereich der Liste ins Rennen schicken. Beispielsweise beschließt die Bezirkskonferenz aus Region A, dass sie 6 Voten vergibt. Der*die Kandidierende aus der Region mit dem ersten Votum darf auf den höheren Listenplätzen antreten. Die Person mit dem zweiten Votum darf erst danach antreten, dann die mit dem dritten Votum, und so weiter. Die genauen Modalitäten und Absprachen unterscheiden sich allerdings von Region zu Region. Dementsprechend entscheidet sich bereits auf den Bezirkskonferenzen, wer überhaupt für einen sicheren Listenplatz kandidieren darf. 

Mit einem Direktmandat und einem Regionalvotum für einen Bereich der Liste kann man also auf dem Landesparteitag antreten. Da diese Regeln informell sind, könnte eine Person theoretisch auch ohne Direktmandat und Regionalvotum antreten – allerdings wäre dieser Versuch von vornherein aussichtslos. Neben diesen beiden Anforderungen braucht man realistischerweise auch direkte informelle Unterstützung. Die Unterstützung des in Niedersachsen mittlerweile starken Linken Flügels oder einflussreiche Parteimitglieder die sich für einen aussprechen sind hilfreich – für die oberen Listenplätze absolut notwendig. 

Das Bild ist eine Grafik von dem Listenaufstellungsverfahren.

Mehr Informationen zu unserem Projekt PARTEIWATCH gibt’s hier. Im Zuge von PARTEIWATCH haben mit der Dokumentation der Abstimmungen und Absprachen auf Landesparteitagen für die kommenden Landtagswahlen 2022 angefangen. Wenn Du selbst in einer Partei bist und Dich (gerne auch vertraulich) mit uns über das Thema austauschen möchtest, melde Dich gerne bei Samuel: [email protected]

¹Laut dem sog. Frauenstatut der Grünen erfasst der Begriff „Frauen“ alle, sie sich selbst so definieren.

Parteiwatch ist ein Projekt des Brand New Bewegung e.V.

Weitere Informationen zum Projekt und alle Infos gibts hier.

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