Parteiwatch

Wer ins Parlament einzieht, wird am Wahltag entschieden? Stimmt so nicht ganz!

Wie es kommt, dass viele Abgeordnete de facto schon vor der Wahl feststehen, wer einen sicheren Platz bekommt, und was das Problem dabei ist.

Fast 60% der Abgeordneten dieses Bundestages sind über Listenplätze eingezogen. Der Prozess zur Bestimmung der Landeslisten, also wer wie welchen Listenplatz bekommt, ist jedoch nicht transparent, begünstigt gut vernetzte, langjährige Parteimitglieder und benachteiligt systematisch Frauen, junge Menschen, People of Color, und andere Personengruppen, die im politischen System unterrepräsentiert sind. Plätze auf den jeweiligen Landeslisten werden zwar offiziell über parteiinterne Wahlverfahren bestimmt, sind aber oftmals ein Resultat vorheriger Absprachen. Außerdem werden die Abstimmungen über die Listenplätze nur selten dokumentiert und schon gar nicht öffentlich-medial kritisch begleitet. Mit unserem Projekt PARTEIWATCH wollen wir diese Lücke schließen und für mehr Transparenz im politischen System sorgen. 

“Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.” 

~Art. 38 GG

Abgeordnete in deutschen Parlamenten werden unmittelbar gewählt, das heißt: Wir wählen unsere Vertreter*innen direkt in Bundestag und Landtag(e). Für viele der heutigen Abgeordneten im Bundestag stand aber schon vor dem Wahltag so gut wie fest, dass sie de facto einen festen Platz im Parlament haben – sie hatten einen “sicheren” Listenplatz. Aber was ist ein sicherer Listenplatz und wie bekommt man ihn?


Viele der Abgeordneten stehen de facto vor dem Wahltag fest

In den Bundestag können Kandidierende entweder über ein Direktmandat oder ein Listenmandat kommen (eine kurze Erklärung dazu findest Du zum Beispiel hier). Die meisten Abgeordneten im Bundestag – knapp 60% – haben ein Listenmandat.

Um an ein Listenmandat zu kommen, müssen Politiker*innen es erst auf die Landesliste einer Partei schaffen. Nach der Wahl ziehen von dieser Liste so viele Personen als Abgeordnete ins Parlament ein, wie der Partei nach den Zweitstimmen Sitze zustehen.¹ Das bedeutet wiederum, wer einen vorderen Platz auf der Liste einer der größeren Parteien hat, zieht mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ins Parlament ein. Beispielsweise sind von der Landesliste der SPD in Baden-Württemberg bei sämtlichen Bundestagswahlen seit 2002 immer mindestens die ersten 14 Plätze in den Bundestag eingezogen. Die Zuteilung dieser Listenplätze durch die Landesparteien ist dementsprechend ein entscheidender Faktor dafür, wer die Bevölkerung letztendlich im Parlament vertritt.

Diese Vergabe findet allerdings weitestgehend fernab der Öffentlichkeit statt und wird tatsächlich nur in Ausnahmefällen überhaupt dokumentiert: Die meisten Parteien veröffentlichen am Ende nur die finale Liste, aber nicht die einzelnen Abstimmungsergebnisse, Reden, Absprachen oder Vorschläge. Berichterstattung in der Presse gibt es in der Regel nur darüber, wer Spitzenkandidat*in ist, aber nicht wer sonst noch einen sicheren Platz bekommen hat.


Die Listenplatzvergabe folgt Mustern und ist meist abgesprochen

Wer auf der Landesliste einer Partei welchen Platz bekommt, entscheidet sich auf dem jeweiligen Landesparteitag. Der Modus der Vergabe ist im Grunde einfach. Als erstes wird über Platz eins auf der Liste abgestimmt. Kandidierende können sich bewerben – entweder im Voraus oder noch spontan auf dem Parteitag selbst – und dürfen in der Regel in einer Rede für sich werben, bevor die Parteitags-Delegierten abstimmen, wer auf diesen Platz gewählt werden soll.

Ist Listenplatz eins vergeben, wird mit Listenplatz zwei fortgefahren. Dabei können unterlegene Bewerber*innen erneut kandidieren. So wird die Liste abgestimmt bis alle Plätze vergeben sind.² Im Prinzip können sich also alle Personen auf einzelne Listenplätze bewerben und dann stimmt der Parteitag ab, wer diesen Listenplatz bekommen soll. Das klingt erstmal ziemlich fair und transparent.

Tatsächlich finden im Hintergrund aber bereits Wochen und teilweise Monate vor dem Parteitag Absprachen statt, wer wessen Bewerbung auf welchem Platz unterstützt und wer dadurch überhaupt eine Chance auf einen guten Platz hat. Dabei spielen Seniorität, regionaler Proporz und natürlich persönliche Beziehungen eine große Rolle.³ In manchen Landesverbänden bestimmter Parteien werden sogar von den Landesvorsitzenden ganze Listenvorschläge gemacht, die auf dem Parteitag nur noch „abgenickt“ werden.

Diese Absprachen konzentrieren sehr viel Macht und Einfluss in den Händen der Parteivorsitzenden, verstärken bestehende Machtstrukturen und hindern bestimmte Gruppen daran, in der Partei aufzusteigen.⁴ Außerdem gelten für potenzielle Kandidat*innen  je nach persönlichem Hintergrund und Lebenssituation andere Voraussetzungen für das zeitintensive Netzwerken innerhalb der Partei: Eine selbständige Person ohne Kinder kann ihre Zeit flexibler einteilen und beispielsweise einfacher an Gremiensitzungen oder Netzwerktreffen teilnehmen als ein alleinerziehendes Elternteil, das im Schichtbetrieb arbeitet.⁵ Der SPD Abgeordnete im Europaparlament Jens Geier urteilt dazu selbstkritisch, dass dieses Verfahren “nicht wenige theoretisch geeignete Kandidatinnen und Kandidaten aus[schließt]”.⁶


Menschen mit diversen Hintergründen werden strukturell benachteiligt

Eine aktuelle wissenschaftliche Studie bestätigt die Problematik. In einer Befragung sollten lokale und regionale Parteivorsitzende Profile von zufällig generierten Bewerber*innen bewerten, wobei bestimmte Eigenschaften wie Geschlecht, Erfahrung, und Bildung zufällig verändert wurden. Es zeigt sich: Während politische Erfahrung und Parteiengagement wichtig sind, spielen auch sozio-ökonomische Faktoren bei der Auswahl eine Rolle. Menschen mit geringer formaler Bildung, eher ältere und eher jüngere Menschen bekommen weniger Unterstützung der Parteivorsitzenden.⁷

Die Studie zeigt ein differenziertes Bild beim Effekt des Geschlechts: Insgesamt werden Profile weiblicher Bewerberinnen etwas vorgezogen. Dieser Effekt entsteht durch die Befragten der Grünen, FDP und Linkspartei. Bei SPD, CDU und AfD gibt es keinen signifikanten Unterschied.

Eine ähnliche Studie fand 2019 heraus, dass Parteifunktionäre Bewerber*innen präferieren, die ihnen in sozio-demografischen Merkmalen wie Alter, Geschlecht und Bildungsgrad ähnlich sind.⁸ Das führt dazu, dass sich nicht-diverse Machtstrukturen in Parteien immer weiter reproduzieren.

Auch dieses System ist ein Grund für die mangelnde Diversität in unseren Parlamenten: Oft bekommen Frauen, Menschen mit Einwanderungsgeschichte oder People of Colour gar keine oder nur hintere Listenplätze.⁹


Mit PARTEIWATCH untersuchen wir den Prozess der Kandidat*innen-Selektion

Wir halten also fest: Die meisten Abgeordneten bekommen ihr Mandat über die Landesliste, gleichzeitig erfolgt die Aufstellung dieser Landeslisten ohne große Öffentlichkeit,  intransparente Netzwerke und Absprachen spielen eine wichtige Rolle, und Frauen, PoCs und andere unterrepräsentierte Gruppen haben strukturelle Nachteile.

All dies zeigt: Die Verteilung von Landeslistenplätzen ist ein wichtiger Bestandteil unseres demokratischen Systems, der bisher deutlich zu wenig Beachtung in der öffentlichen Debatte gefunden hat. Ein Großteil unserer Volksvertreter*innen wird so bereits vor dem Wahltag de facto bestimmt, aber wir schauen meistens nicht einmal hin. Wir von Brand New Bundestag wollen das ändern.

Wir wollen wissen, wer auf welchem Listenplatz kandidiert, wer welche Chancen hat, wer für welche Themen eintritt. Deswegen wollen wir eine transparente Datenbasis schaffen, um diesen Auswahlprozess, bei dem de facto viele Sitze im Parlament vergeben werden, systematisch zu evaluieren.

Vom Workshop zum Toolkit

PARTEIWATCH hält deshalb die Lupe auf genau diese Prozesse. Wie ist der Status Quo in den verschiedenen Bundesländern? Welche Ansätze haben verschiedene Parteien bereits eingesetzt, um die Diversität in den Listen zu stärken?

Dank einer Förderung durch die Hertie Stiftung konzentrieren wir uns für ein Jahr auf die Bundesländer Sachsen, Thüringen und Brandenburg: wir gehen in den Austausch mit Betroffenen und Expert*innen, um Lösungsansätze zu untersuchen, die Parteien für sich verwenden können. 

Wir haben mit der Dokumentation der Abstimmungen und Absprachen auf Landesparteitagen für die kommenden Landtagswahlen 2022 angefangen. Wenn Du selbst in einer Partei bist und Dich (gerne auch vertraulich) mit uns über das Thema austauschen möchtest, melde Dich gerne bei Samuel: [email protected]

Hast du Feedback für uns, Fragen an uns oder möchtest du dich bei unserem Projekt engagieren? Schick uns eine Mail an [email protected].

Weitere Informationen zum Projekt „Parteiwatch“ gibt es hier.

 

¹Das ist etwas vereinfacht ausgedrückt. Das Sitz-Zuteilungs-Verfahren ist tatsächlich einigermaßen komplex mit Direktmandaten, Überhang- und Ausgleichsmandaten. Der Blog Wahlrecht.de hat das hier gut zusammengefasst.
²Teilweise wird bei den hinteren Listenplätzen, die keine realistische Chance auf einen Einzug ins Parlament haben, in Blöcken über mehrere Plätze gleichzeitig abgestimmt.
³Reiser (2014)
Detterbeck (2016)
Deutschlandfunk
Geier, J. (2015)
Berz und Jankowski (2022)
Rehmert (2020)
⁹Bundeswahlleiter (2021): Sonderheft Wahlbewerberinnen und Bewerber

 

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