Ampel-Entwurf zur Wahlrechtsreform - eine Gefahr für die Diversität oder eine Chance für inklusivere Parteistrukturen?

Der deutsche Bundestag ist in den letzten Jahren zu einem der größten Parlamente der Welt geworden. Die gesetzliche Größe ist auf 598 Sitze festgelegt. Durch das aktuelle Wahlsystem, durch Erst- und Zweitstimme sowie Überhang- und Ausgleichsmandate besteht der Bundestag aktuell jedoch aus 736 Personen. Damit ist er um fast ein Viertel größer als die gesetzlich verankerte Zielgröße.
Am 16. Januar stellte die Ampelkoalition einen Gesetzesentwurf für eine umfassende Wahlrechtsreform vor, um den Bundestag auf die Regelgröße von 598 Mandaten zu reduzieren. Der Entwurf wurde von Sebastian Hartmann (SPD), Konstantin Kuhle (FDP) und Till Steffen (Grüne) ausgearbeitet.


Welche Veränderungen sieht der Gesetzesentwurf vor?

Die maßgebliche Veränderung liegt darin, dass Überhang- und Ausgleichsmandate komplett entfallen würden. Die Anzahl der Wahlkreise bliebe jedoch erhalten. Die aktuelle Anzahl der Wahlkreise beträgt 299. Nach aktuellem Wahlsystem ziehen die Gewinner*innen der Wahlkreise, die durch die Erststimme ermittelt werden, als Direktmandate sofort in den Bundestag ein. Die zweite Stimme, mit der eine Partei gewählt wird, entscheidet darüber, wie die 598 Sitze im Verhältnis zwischen den Parteien verteilt werden. Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate als ihnen nach dem gewählten Verhältnis zustimmt, ziehen diese als sogenannte Überhangmandate trotzdem ein, aber die insgesamte Zahl der Sitze wird so lange durch Ausgleichsmandate an die übrigen Parteien erhöht, bis die Sitzverteilung wieder dem Stimmenverhältnis entspricht.
Durch die Wahlrechtsreform würden Überhang- und Ausgleichsmandate komplett entfallen. Die Erststimme würde zukünftig “Wahlkreisstimme”, die Zweitstimme “Hauptstimme” genannt werden. Mit der Hauptstimme würde weiterhin das Verhältnis der Sitzverteilung zwischen den Parteien bestimmt werden, die Größe des Bundestages wäre jedoch fix 598 Sitze. Das hätte zur Folge, dass Kandidat*innen, die ihren Wahlkreis gewinnen, nicht mehr automatisch in den Bundestag einziehen würden. Würde eine Partei mehr Direktmandate gewinnen, als ihnen durch die Hauptstimme zustehe, sollen diejenigen mit dem niedrigsten Wahlergebnis nicht in den Bundestag einziehen. Diese Wahlkreise würden nach Ampel-Vorschlag unbesetzt bleiben. Dieses Prinzip wird “Hauptstimmendeckung” genannt und sorgt dadurch für eine konstante Begrenzung des Bundestags auf 598 Mandate.

Auswirkungen der Wahlrechtsreform: noch mehr alte weiße Männer im Bundestag?

Tritt die Wahlrechtsreform in Kraft, gäbe es folglich weniger Mandate und es würden weniger Personen von den Landeslisten nachziehen. Bei der Bundestagswahl 2021 gab es insgesamt 138 Überhang- und Ausgleichsmandate. Davon entfielen 41 auf die Union, 36 auf die SPD, 24 auf die Grünen, 16 auf die FDP, 14 auf die AfD und sieben auf die Linkspartei. Auch einer unserer Kandidierenden und mittlerweile Teil des BNB-Squad im Bundestag, Kassem Taher Saleh (Bündnis 90/Die Grünen) ist durch ein Überhangmandat in den Bundestag eingezogen. Trotzdem spricht er sich auf Twitter für die Wahlrechtsreform und eine Begrenzung des Bundestages aus. Zeit Online zeigt in einer Analyse auf, die auch in dem Tweet von Kassem zu sehen ist, wer nach dem Vorschlag der Wahlrechtsreform heute nicht im Bundestag säße. Neben Kassem hätte zum Beispiel auch Awet Tesfaiesus – die als erste Schwarze Frau im Bundestag gefeiert wurde – den Einzug nicht geschafft. 

Außerdem auffällig: viele der betroffenen Abgeordneten sind jung,  z.B. Jens Teutrine (FDP), Lena Werner (SPD, wie Kassem auch Teil des BNB-Squads), Ates Gürpinar (Die Linke) oder Lukas Benner (Bündnis 90/Die Grünen). Hätte die Wahlrechtsreform daher einen negativen Einfluss auf die Diversität unserer Parlamente? 

Erstmal kann festgehalten werden, dass weniger Mandate eben auch bedeutet, dass die übrig gebliebenen Plätze noch härter umkämpft wären. Dadurch besteht die Gefahr, dass Personen aus bereits unterrepräsentierten Gruppen es noch schwieriger hätten, in den Bundestag einzuziehen. In unserem Projekt Parteiwatch zeigen wir auf, wie die Mandate, insbesondere die aussichtsreichen Listenplätze, häufig intransparent über persönliche Absprachen innerhalb der Parteien vergeben werden. Hier zeigt sich: Es geht viel um starke Netzwerke, informelle Machtstrukturen und Absprachen. Insgesamt wird deutlich, dass bestimmte Gruppen im Prozess der Listenaufstellung stark benachteiligt werden: z.B. junge Menschen, BIPoCs, FLINTA, Menschen ohne akademischen Abschluss und Menschen mit Migrationsgeschichte. Für mehr Hintergrund empfehlen wir unseren Blogpost zu Parteiwatch.

Aufgrund der Begünstigung für diskriminierende Strukturen sowie die damit einhergehende mögliche Diversitätsreduzierung geht es bei der Wahlrechtsreform auch darum, diese Konsequenzen mitzudenken und Rahmenbedingungen innerhalb der Parteien bestmöglich auszugestalten. Die Frage ist also, wie Parteien damit umgehen, dass sie mit der gleichen Anzahl an Bewerber*innen weniger aussichtsreiche Kandidaturen zu besetzen haben. Hier besteht die Gefahr, dass sich bereits etablierte, gut vernetzte und sehr privilegierte Personen durchsetzen und weiterhin vom aktuellen System stärker profitieren. Unterrepräsentierte Gruppen hätten es noch schwerer als bereits jetzt. Um dies zu vermeiden, ist ein bewusster Umgang mit möglichen Diskriminierungsmerkmalen innerhalb der Parteien notwendig. Im Idealfall nehmen die Parteien diese Reform als Anstoß, um ihre parteiinternen Strukturen insbesondere zur Listenaufstellung zu überdenken, sowie transparenter, offener und fairer zu gestalten.


Unser Projekt Parteiwatch sorgt für die nötige Transparenz

Mit unserem Projekt Parteiwatch werden wir weiterhin genau hinschauen, wie die Parteien mit der Reform umgehen und ob dies dazu führt, dass die gut vernetzte Parteielite die verbleibenden Mandate unter sich aufteilt und unterrepräsentierte Gruppen es in Zukunft noch schwerer gemacht wird. Wir setzen uns dafür ein, dass der faire und offene demokratische Wettbewerb in den Parteien gestärkt wird und begleiten und unterstützen weiterhin gezielt Kandidierende aus unterrepräsentierten Gruppen auf ihrem Weg ins Parlament.

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Alina ist Volunteer bei BNB und aktiv im Kommunikations-Team.

Quellen:
Deutschlandfunk (18.01.2023): Wahlrechtsreform – Wie der Bundestag verkleinert werden soll (https://www.deutschlandfunk.de/wahlrechtsreform-wie-der-bundestag-verkleinert-werden-soll-100.html)
Tagesschau (16.01.2023): Verkleinerung des Bundestags – Ampel legt Entwurf für Wahlrechtsreform vor (https://www.tagesschau.de/inland/gesetzesentwurf-wahlrechtsreform-101.html)

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